Dass ich mit der textkritischen Edition einer Vorlesungsmitschrift des Kieler Aufklärungsphilosophen Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) promoviert worden bin, ist ja mittlerweile schon acht Jahre her. Aber auch, dass mich ein privater Sammler mit einem ähnlich gelagerten Dokument – ein möglicherweise aufregender Parallelfund – ansprach, liegt mittlerweile deutlich über zwei Jahre zurück.
Ich bekam Bilder, die Aufregung stieg, internationale Wissenschaftler, die – anders als ich – weiterhin aktiv in der Philosophie arbeiteten und eine Tetens-Expertise aufwiesen, zeigten Interesse an Transkription, Übersetzung – vielleicht als ein kollaboratives Online-Projekt?
Parallel brachte die Corona-Pandemie immer neue Lockdowns, insbesondere das physische Handling eines solchen Manuskripts wurde dadurch nicht einfacher. Im September 2021 vertraute mir schließlich der Eigentümer das wertvolle Manuskript bei einem persönlichen Übergabetreffen an. Wie wir alle erinnern, wurden die darauffolgenden Monate bei allem Nicht-Digitalen nicht unbedingt einfacher. Dazu der etwas zwischen den institutionellen Stühlen befindliche Status des Manuskripts: Es ist – ohne Schenkung o. dgl. – nicht unbedingt leicht, ein solches Objekt in eine Universitätsbibliothek zu bekommen, um es durch Expertinnen digitalisieren zu lassen … Nach langem Hin und Her habe ich das dann schließlich privat als Besucher am Aufsichtsscanner getan.
Long story short: Hier ist Seite 1.
Metaphysik. Vorbericht
Vorbericht zur Metaphysik
§.1.
Unter d. Namen der Metaphysik begreift [unleserlich] gewohn-
lich folgende philosophisch. Wissenschaften
- die Wißenschaft unserer Seele (auch von anderen
Seelen außer der menschl. u von Geistern)
die Psychologie, Pneumatik, Seelenlehre. - die Wißenschaft von der Welt im allgemeinen
(von den allgemeinsten Beschaffenheiten d.
Welt) die allgemeine Kosmologie - die Wißenschaft von Gott. Die Theologie der
Vernunft - die Wißenschaft von einem Dinge überhpt
(von den allgemeinsten Begriffen u. Grund-
säzen des Verstandes) die Grundwißenschaft.
Ontologie, die allgemeine Philosophie (Me-
taphysik in der ursprünglichen u. engern Be-
deutung des Worts).
Anmerk. Da nach der allgemeinen Abteilung
der Gegenstände der menschl. Erkenntniß,
die Seele u. Gott zu den nicht sinnlichen
od. immateriellen Objekten gehören ., die
allgemeinen Grundbegriffe u. [unleserlich]
Verstandes [unleserlich], zu den übersinnlichen
d.i. zu den allgemeinsten Objecten der so
genannten transcendentalen Kenntniße
so kann die Metaphysik erklärt werden als
die Vernunftwißenschaft von immateriellen
u. transcendentalen Gegenständen (von
den [unleserlich] sinnlichen u. übersinnlichen Gegen-
ständen). Sie macht den größten Teil d.
intellectual Phylosophie aus
§.2.
Die Metaphysik zerfällt natürlich in d. oberwähnt..
4 Teile. Diese können auf verschiedene Art ge-
Halte ich nun diese kleine Stichprobe neben die Edition des ersten Manuskripts, fällt sofort der große Umfang der Übereinstimmung auf: Weitestgehend sind die beiden Texte wortidentisch. Gäbe es nicht sporadische Abweichungen sowie auch Unterschiede in der Schreibung, könnte man fast annehmen, es handele sich um eine Kopie der ersten Mitschrift. So ist aber wohl davon auszugehen, dass es sich um eine weitere Mitschrift derselben Vorlesung handelt. – Ggf. sogar aus einem anderen Semester, aber nur unter der Prämisse, dass Tetens seine Metaphysik wortgleich gelesen hat: Denn Stichproben zeigen die großen wörtlichen Übereinstimmungen; beide Manuskripte enden sogar identisch.